Der Flirt mit dem Zufall – die Alternative zu Zwang und Chaos
Heute früh bin ich aufgestanden und mir kam etwas in den Sinn, was mich vor einiger Zeit bewegt hat. Lasst es mich mal nennen: Der Flirt mit dem Zufall.
Ich glaube, ich war so Anfang 20 und der Sinn stand mir nach Extremen, was mich das eine oder andere Mal haarscharf um mein Erbe gebracht hätte. Und dementsprechend war auch die Lektüre, die wir damals Ende der 70er lasen. Wir konnten nächtelang über Castanedas Don Juan diskutieren und liebten den Steppenwolf von Hermann Hesse.
Zu unserer Kultlektüre zählte damals auch der Diceman, jene Story von und über Luke Rhinehart, jenes durchgeknallten New Yorker Psychiaters, der sein Leben vom Zufall, um genau zu sein, von einem Würfel bestimmen ließ. Das Buch war wild und anarchisch, so waren die Zeiten eben – glaubten wir wenigstens. Vor einiger Zeit fiel es mir wieder in die Hände. Vielleicht kennst Du das. Du stehst so vor dem Bücherregal. Dein Blick fliegt über die Buchrücken und Du suchst etwas, was Dich anmacht. Und just da fiel es aus dem Regal, das alte abgegriffene Paperback von „Der Würfler“.
Zufall? Manche Menschen sagen ja, Zufall ist, wenn dir etwas zufällt – im richtigen Augenblick. Und ich denke, so war es. Und ich beginne zu lesen:
„In erster Linie bin ich Psychiater. Meine Leidenschaft als Psychiater und als Würfler gehört der menschlichen Persönlichkeit und den Möglichkeiten, sie zu verändern. Meine Persönlichkeit, die anderer, die jedermanns. Ich will den Menschen das Gefühl der Freiheit, der ungetrübten Freude verschaffen. Die reinen nackten Empfindungen sollen wieder zum Leben erweckt werden. Empfindungen, die etwa entstehen, wenn wir mit bloßen Füßen am frühen Morgen die Erde spüren und plötzlich gleich horizontalen Blitzen die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Blattwerk der Bäume hervorbrechen sehen. Wenn ein junges Mädchen zum ersten Mal die Lippen zum Kuss reicht, wenn ein plötzlicher Ideenblitz uns innerhalb von einer Zehntelsekunde die Erfahrung eines ganzen Lebens im neuen Lichte erscheinen lässt. Das Leben besteht aus kleinen Inselchen der Ekstase und Verzückung inmitten eines Ozeans der Langeweile. Und ist man einmal 30, dann sieht man immer seltener Land. Wenn man gut ist, wandert man solange von einem Streifen Sand zum anderen, bis man fast jedes Sandkörnchen kennt.“
Manchmal denke ich, ein klein wenig mehr von Lukes Einstellung könnte uns in einer Zeit, in der zwei Drittel aller Steuergesetze auf der Welt in Deutsch verfasst sind nicht schaden.
„Die Zehn Gebote zählen 279 Wörter, die Unabhängigkeitserklärung der 13 US Staaten zählen 300 Wörter und haltet Euch fest! Die EG-Verordnung über Importe von Karamellbonbons zählen 25.911 Wörter.“
Wo Du hinschaust, alles ist geregelt. Wir haben die DIN 820, die Mutter aller Ordnungen, die auf 150 eng beschriebenen Seiten regelt, wie alles geregelt sein muss. Es gibt über 20.000 DIN-Vorschriften und 40.000 Fachleute in Unternehmen, Behörden und Verbänden arbeiten haupt- und nebenamtlich an der Weiterentwicklung dieser Regelwerks. Jeder Deutsche hat mindestens fünf Versicherungen oder waren es zehn? Genau aus diesem Grund ist mein Bruder vor vielen Jahren nach Brasilien ausgewandert, weil es ihm hier irgendwie einfach zu eng wurde.
Hermann Rühle, hat seinem bemerkenswerten Buch „Die Kunst der Improvisation“ schön beschrieben. Er sagte:
„Ordnung ist das halbe Leben. Und was ist eigentlich mit der anderen Hälfte?“
„Es scheint irgendwie so zu sein, dass zwei Welten unser Leben bestimmen und miteinander ringen. Auf der einen Seite eine ordentliche Welt, voller Planung, Exaktheit, Organisiertheit und Geradlinigkeit, die aus Gesetzen, Normen, Fahrplänen, Arbeitszeitmodellen, Friedhofsordnungen und Synchronschwimmen besteht. Und auf der anderen Seite eine außerordentliche Welt, in der es locker zugeht, in der man das Unvorhergesehene irgendwie spontan bewältigt, mit einer Stegreifrede zum Beispiel oder mit einer Sicherheitsnadel provisorisch, last minute-mäßig. Und beide Welten können ins Extreme abdriften. Das Ordentliche ins Zwanghafte und das Außerordentliche ins Chaos.“ Der französische Schriftsteller Paul Valéry sagte dazu:
Zwei Gefahren drohen der Welt, Ordnung und Chaos.
Bitte versteh mich richtig. Ich mag Ordnung. Aber jede Ordnung hat auch die Tendenz, sich zu verfestigen und endet im Zwanghaften. Zwang ist eher unbehaglich und kein Zustand, den man auf Dauer aushalten möchte. Deshalb kippt eine zu starre Ordnung nach der Chaostheorie zwangsläufig irgendwann um, wird zur Unordnung und wir stecken im Chaos. Nach dem Chaos, wenn nichts mehr da ist, beginnt man zu improvisieren, schafft eine vorübergehende Ordnung, bis sich diese wieder langsam, aber sicher manifestiert. Die Ordnung geht in Ordnung – mit der Tendenz zum Zwang. Nach dem Soziologen Manfred Wöhlcke wirken auf alle sozialen Systeme, und zwar von der Partnerschaft über den Kegelklub, bis hin zu ganzen Staaten, immer zwei Kräfte, Syntropie und Entropie.
Syntropie ist die Tendenz zur konstruktiven Ordnung.
1996 hat Otto Rehhagel den zweitklassigen 1. FC Kaiserslautern übernommen und ist mit ihm 1998 direkt zur deutschen Meisterschaft gestürmt. Entropie ist der absteigende Ast, der Niedergang eines Systems, die Tendenz zur Unordnung, zur Anarchie, zum Chaos. 2000 wurde Rehhagel vom Betzenberg gestoßen und 2001 hatte er die müden Kicker aus Griechenland übernommen. Und 2003 syntropierte König Otto zum griechischen Nationalhelden und nach dem Hochmut kam der Zerfall. Es geht rauf und runter.
Aus dieser Idee kann man nun verschiedene Modelle basteln.
Analog zum Friedemann Schulz von Thun´s Wertequadrat sähe das in etwas so aus:
Oben links stünde die Qualität der Ordnung. Je wichtiger diese mir ist desto mehr versuche ich diese in mein Leben zu integrieren … laufe Gefahr, das Gute zu übertreibend lande im „Zwang“. Die Qualität der „Ordnung“ braucht also eine zweite Qualität an ihrer Seite, die verhindert, dass wir das Kinde mit dem Bade ausschütten : die lockere Kunst der Improvisation. (Für alle, die das Wertequadrat noch nicht kennen – hier ein kurzer Video dazu.)
Doch wenn ich viele (auch eigene) Projekte betrachte, dann scheinen diese vier Elemente auch in einer sequentiellen Logik miteinander zusammen zu hängen.
Egal ob ich jetzt an diesen Blogartikel denke oder auch an grössere Projekte … oft beginne ich „aus dem Bauch heraus“ .. zeichne einige Mindmaps… fülle die Wand hinter mir mit Dutzenden von Post-its – kurzum: Ich improvisiere. Bis ich zu einem Punkt komme, an dem ich drohe, die Übersicht zu verlieren. Meist eher ein (Stör-)Gefühl als ein Gedanke – als ob ich mental einen Schwellenwert überschritten hätte und etwas in mir beginnt .. zu ordnen.
Das macht Spaß – der Überblick kehrt zurück und mit ihm meldet sich eine weitere Qualität – die
Perfektion. „Da gibt es sicher noch eine bessere App, mit der man das Ganze grafisch noch optimaler (=perfekter) darstellen kann .. oder kann man die Post-Its vielleicht sogar „noch sauberer“ (=perfekter) mit dem Drucker beschriften?“ Die anfängliche Ordnung degeneriert langsam aber sicher zum Zwang. Und dann kommt irgendwann das Chaos ins Spiel zerstört (meist) auf recht schöpferische Art und Weise die zwanghafte über-perfekte Ordnung und führen uns wieder in die Leichtigkeit der Improvisation. … die irgendwann nach mehr Ordnung ruft…. ein ewiger Kreislauf.
Warum ich das erzähle? Weil das mit dem „Würfel“ von Luke Rhinehart zu tun hat. Meine Erkenntnis aus dem Ganzen: Panta rhei, alles ist im Fluss. Schaue auf Dein Leben und bemerke, wo in diesem Kreislauf Du Dich gerade befindest und vielleicht ist es hin und wieder gut, den eigenen Improvisationsmuskel etwas zu trainieren, wobei wir genau bei den Würfeln von Luke wären. Wie wäre es denn mit einem kleinen Abenteuer á la Luke, ein klein wenig weniger Routine, Struktur und ein klein wenig mehr innere Flexibilität? Wie wäre es mal damit, sich einmal zu trennen von lieb gewonnenen Alltagsritualen und etwas zu wagen, etwas Neues beginnen? Übrigens, wann hast Du denn das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht? Hast Du Lust dazu? Hier ist die Chance für ein kleines Abenteuer.
Schritt eins: Schreibe zunächst sechs Dinge auf einen Zettel, die Du schon immer mal machen, lernen, erleben wolltest. Vielleicht fallen Dir Dinge ein, Sachen ein, die Du früher gerne getan hast und die aus irgendwelchen Gründen irgendwann unter den Tisch der Zeit gefallen sind. Du, das muss nichts Großartiges sein, keine Kilimandscharo-Besteigung und auch keine Weltumseglung. Aber es sollte etwas sein, was Dich aus Deiner Komfortzone herausholt. Denn wie man weiß echtes Wachstum findet niemals in dieser Zone statt. Natürlich hängt das von jedem Einzelnen ab, was und was in und was außerhalb der Komfortzone ist. Hier mal ein paar völlig unrepräsentative Beispiele out of my zone:
- Erstens, zwei Monate absolut nix bei Amazon.de bestellen.
- Zweitens, einen Gesangsworkshop besuchen.
- Drittens, einen Theaterkurs machen.
- Viertens, einen ganzen Tag ohne Internet verbringen. Horror.
- Fünftens, ein asiatisches Vier-Gänge-Menü kochen und zwar ohne Rezept.
- Sechstens, nix von alledem. Alles bleibt so, wie es ist. Denn die Beständigkeit braucht ja auch ihre Chance, oder?
So, und jetzt kommt es. Nimm einen Würfel zur Hand, und bevor Du ihn wirfst, ringe Dir das Versprechen ab, dass Du das zu hundert Prozent tust, was der Würfel Dir sagt. Los geht es.
Genau. And now role the die. Ach, Du hast keinen Würfel zur Hand? Die Ausrede gilt nicht. Im Internet gibt es ein Online-Würfel (https://www.freeonlinedice.com/#dice)
Und achte doch mal auf Deine Gedanken, während Du das tust. Denn die Gedanken sind fast so interessant, wie das Würfelerlebnis selbst. Okay, das war es schon. Wenn Du möchtest, schreib mir einfach mal Deine Erfahrung, und wenn Du nette andere Würfeloptionen gefunden hast, freue ich mich. Schreibe sie einfach in eine Mail rein oder in die Kommentare. Übrigens solltest Du noch ein paar ausgefallene Würfeloptionen benötigen, ich wüsste da schon noch ein paar. 🙂
Flirt mit dem Zufall from Hans J. Walter on Vimeo.
Quellen: