Sensation Seekers oder wie viel Stress braucht der Mensch
Warum viele Chefs Sensation Seeker sind und welche Konsequenzen dies für Mitarbeiter hat.
„Ich kann nur unter Druck arbeiten….!“
Vielleicht kennen Sie solche Aussprüche und es mag sein, dass Sie jetzt hier erwarten, ich würde wieder einmal eine Lanze für weniger Stress oder mehr Ausgleich brechen. Weit gefehlt!
Aber lassen Sie mich am Anfang beginnen. Eine merkwürdige Dissonanz begleitete mich durch Jahrzehnte hindurch. Die Dissonanz zwischen meiner Einstellung, wie ich funktionieren sollte und dem, wie ich wirklich funktioniere. Irgendwann in meinem Leben keimte der Glaubenssatz in mir, es sei konstruktiver, wenn man Dinge gut geplant und in aller Ruhe anginge – in der bekanntlichermaßen die Kraft liegt.
Schon im Studium predigte man uns: „Macht Euch einen Lernplan, teilt den Stoff in kleine machbare Häppchen, beginnt rechtzeitig und arbeitet jeden Tag systematisch diesen Plan ab.“ Ist ja auch irgendwie plausibel, oder?
Ich weiss nicht mehr, wie viele Anläufe ich gemacht habe, nur um dann wie hypnotisiert vor meinen (Lern-)plänen zu sitzen und darauf zu warten bis mich der Lerneifer packt – meist vergebens.
Andererseits konnte ich, wenn es richtig eng wurde, locker zwei Tage non-stop hochkonzentriert arbeiten. Irgendwann prägte ich dann den Begriff „Last-minute-Junkie“ für mich und arrangierte mich mit meinen „uneffektiven“ Arbeitsstil.
Auch heute noch habe ich die besten Ideen, wenn ich richtig unter Strom stehe. Dann schaffe ich locker ein mehrfaches meines normalen Arbeitspensums …. und das Verblüffende: Trotz Stress mache ich weniger Fehler als in ruhigen Zeiten.
Doch dieser Glaubenssatz von früher blökte mir auch heute manchmal ins Ohr: „Teile Dir Deine Zeit besser ein, fange früher an, mach Dir einen Plan…. usw.“ bis wir beide, mein Belief und ich, vor einiger Zeit auf einem spannenden Neuro-Kongress waren, in dem es um Stress, die Arbeitsweise unseres Gehirns und … „last-minute-junkies“ ging.
Sie sind ein „Ohrenmensch“ und höhen lieber anstatt zu lesen? Kein Problem – diesen Artikel gibt es auch als Podcast (16 min) und zwar hier:
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Das Yerkes-Dodson-Gesetz
… besagt, dass unsere Leistungsfähgkeit in engem Zusammenhang mit unserem emotionalen Erregungsniveau steht und dass wir unsere maximale Leistung am besten bei einem mittleren Erregungspegel erreichen. (siehe Grafik 1)
Kurzum: Bei zu wenig Stress bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten zurück. Bei zu viel Stress strebt unsere Leistungsfähigkeit wieder gegen Null.
Im Prinzip ist das nichts Neues. Immerhin geht das Yerkes-Dodson-Gesetz bereits auf Forschungen aus dem Jahr 1908 zurück.
Neue Erkenntnisse aus den Neuro-Wissenschaften
Neuere Forschungen haben nun herausgefunden, dass sich diese umgedrehte U-Kurve, die im Original (siehe Grafik 1) ja im Nullpunkt beginnt, bei jedem Menschen recht unterschiedlich sein kann. Die Kurve eines „Last minute Junkies“ (die Wissenschaftler sprechen von „Sensation Seekers„) ist viel weiter nach rechts verschoben. Das heisst, dass diese Menschen ein weitaus höheres emotionales Erregungsniveau brauchen, bis sie „in die Gänge kommen“. Und der Scheitelpunkt ihrer Kurve liegt logischerweise auch über dem Erregungspegel anderer Menschen.
Woran liegt das? Die Forscher mutmassen, dass es erhebliche Unterschiede bei Menschen gibt, was die Freisetzung und Wiederaufnahme von Dopamin, Noradrenalin und Acetylcholin betrifft, Botenstoffe, die einen massgeblichen Einfluss auf den Grad unserer emotionalen Erregung haben. „Sensation Seekers“ scheinen ein weitaus aktiveres Dopamin-System zu besitzen, das sie veranlasst, dauernd auf die Suche nach neuen Impulsen und Erfahrungen zu sein.
Sensation Seekers als Chefs?!
Viele Unternehmer die ich kenne, würde ich der Kategorie der „Sensation Senkers“ zuordnen. Sollten Sie auch dazugehören, habe ich hier eine wichtige Botschaft für Sie:
Beachten Sie bitte, dass es bei den unterschiedlichen Kurven keinerlei Unterschiede gibt, was das maximale Leistungsniveau angeht – es gibt lediglich einen Unterschied, was die Bedingungen (Erregungsgrad) betrifft, die zu diesem Leistungsniveau führen. Warum ich das erwähne? Wir schauen durch unsere subjektive Brille auf die Welt – auch auf unsere Mitarbeiter. Und falls wir dann einen Mitarbeiter haben, dessen Kurve weiter links liegt, interpretieren wir das allzu schnell als mangelnde Belastbarkeit: „Der soll sich nicht so anstellen – das bisschen Stress ist doch völlig normal.“
Das ist blanker Unsinn. Wir vergessen dann nämlich, dass sein maximales Leistungsniveau keinen Deut geringer sein muss – es steht eben nur bei weniger Stress zur Verfügung.
Resumee:
Unsere (kognitive) Leistungsfähigkeit hängt wesentlich von dem Grad unserer emotionalen Erregung (Stress) ab. Einerseits gibt es Menschen, die gerne ohne grossen Druck beständig an Aufgaben arbeiten und bereits bei einem relativ niedrigen Erregungs- bzw. Stress-Pegel Ihre Höchstform erreichen. Andere dagegen brauchen so richtig Action, möglichst engen Termindruck und laufen erst dann zur Top-Form auf, wenn der Stresspegel ein viel höheres Niveau erreicht hat.
Die praktische Umsetzung
- Lernen Sie Ihre persönliche Stress-Kurve kennen und akzeptieren.
Sie müssen keine physiologischen Tests oder Hormonanalysen absolvieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Ihre Stress-Kurve verläuft. Zu Anfang tut es auch ein wenig Selbstreflektion: Führen Sie Tagebuch. Protokollieren Sie nur ein oder zwei Wochen lang, welche Bedingungen Sie brauchen, um in Top-Form zu sein. Oder Sie erinnern sich an Situationen, die Sie am ehesten in einen „Flow-Zustand“ bringen.
(Hier ein kurzer Test, ob Sie eher zu den Sensation Senkers gehören.) - Organisieren Sie Ihren Job möglichst so, das er zu Ihrem Stress-Typ passt.
Sensation Seekers brauchen viele Herausforderungen und eine gehörige Portion emotionale Erregung, um zu Höchstleistungen fähig zu sein. Aber sie sollten auch darauf achten, nach solch einem „Thrill“ ganz bewusst Ruhezeiten einzuplanen. Wenn Ihre „Peak Performance“ jedoch weiter links liegt, achten Sie auf Kontinuität und gute vorausschauende Planung. - Respektieren Sie (besonders als Führungskraft), dass andere Menschen im Vergleich zu Ihnen unter Umständen weitaus weniger Stress benötigen, um Höchstleistungen zu erbringen.
Quellen:
- Kongressunterlagen ICF Neuroleadership
- F. Wiedemann: „The Neuroscience of Peak Performance“
Nachtrag: Nachdem meine Frau diesen Artikel gelesen hatte, meinte sie: Dazu könnte ich jetzt gut einen Artikel zum Thema „Das Leben mit einem Sensation Seeker“ schreiben. 😉
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